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Beiträge: 26

04.06.2004 15:24
Karriere mit Kopftuch Antworten

Karriere mit Kopftuch

In Marokko könnte Nadia Yassine als erste Frau an die Spitze einer islamistischen Bewegung aufrücken

Von Sonja Hegasy

Rabat/Salé

Vielleicht ist das typisch für eine prominente Islamistin (soweit an einer prominenten Islamistin etwas typisch sein kann): Wer von der Marokkanerin Nadia Yassine spricht, der ersten Frau, die Ausicht auf die Führungsposition einer islamistischen Organisation hat, der muss von ihrem Vater sprechen, Abdessalam Yassine, dem greisen Gründervater dieser Bewegung mit Namen „Gerechtigkeit und Wohlfahrt“. Das marokkanische Regime hatte ihn in den siebziger Jahren in die Psychiatrie gesteckt und noch 1990 mit Hausarrest belegt, da er König HassanII. in einem offenen Brief respektlos mit den Worten „Lieber Neffe des Propheten“ angesprochen hatte. Erst im Mai 2000 hob der neue König, MohammedVI., den Hausarrest wieder auf.

Viele trauen es seiner Tochter Nadia zu, die Nachfolge ihres Vaters anzutreten. Eine Frau an der Spitze einer islamistischen Organisation? Das wäre für die ganze arabische Welt eine Sensation.

Für Nadia Yassine wäre es vor allem eine sehr heikle Aufgabe. Gerade jetzt: Die 12 islamistischen Selbstmordattentate in Casablanca im vergangenen Mai haben die Islamisten in Marokko in Bedrängnis gebracht. Der Schock über die 45 Toten erschütterte die Gesellschaft. Fast eine halbe Million Menschen gingen kurz nach den Anschlägen auf die Straße. Ein Parlamentsabgeordneter der gemäßigt islamistischen Partei Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die im Rufe steht, der parlamentarische Arm der Yassine-Bewegung zu sein, wurde in seinem Wahlkreis mit Tomaten beworfen. Männer rasierten sich den Bart ab, um nicht als Fundis zu gelten. Die Jagd auf Islamisten war eröffnet.

Auch die PJD musste reagieren: Zwar ist sie seit den Parlamentswahlen 2002 die stärkste Oppositionskraft im Parlament, im Prinzip eine glänzende Ausgangsposition. Doch dann kamen die Anschläge. Auf Drängen des Innenministeriums stellte die Partei bei den Kommunalwahlen im vergangenen September nur in einem Fünftel der Wahlbezirke Kandidaten auf. Jetzt sind nur noch 2,5 Prozent der Gemeindevertreter Mitglieder der PJD. „Nur nicht auffallen!“ lautet die Parole der gemäßigten Islamisten, um dem Generalverdacht zu entkommen. Dennoch blieben sie in Großstädten wie Casablanca oder Tetouan eine der wichtigsten politischen Kräfte.

Auch Nadia Yassine gibt sich harmlos: „Seit 30 Jahren mahnen wir zur Gewaltfreiheit“, sagt sie. „Trotz Verfolgung und Repression haben wir nie zum gewalttätigen Umsturz der Monarchie aufgerufen. Wir sind für niemanden politischer Ansprechpartner.“

Aber was wollen diese Islamisten dann?

„Wir sind eine mystische Bruderschaft“, lautet die stolze Entgegnung, ehe Frau Nassine fein säuberlich ihre Arbeit aufschlüsselt. „Zu 80 Prozent“ seien die Aktivitäten ihrer Bewegung „rein spiritueller Natur“; lediglich die übrigen 20 Prozent hätten „politisch-sozialen Charakter“. Ihre Bewegung betreibe eine Alphabetisierungskampagne und konzentriere sich im Übrigen besonders „auf die mystische Tradition, die mein Vater begründet hat“. Von politisch-sozialem Charakter ist zweifellos die beharrliche Kritik der Bewegung „Gerechtigkeit und Wohlfahrt“ am sozialen Ungleichgewicht im Lande. Marokko, sagt Nadia Yassine, ist „keine Monarchie, sondern eine Kleptokratie.“ Nur eine Umverteilung des Reichtums könne das Land voranbringen.

So sah es schon ihr Vater. In seinem ersten Memorandum an MohammedVI. hat Abdessalam Yassine die Repatriierung des königlichen Privatvermögens gefordert. Genau das verlangt auch die Tochter. Nadia Yassine kritisiert das luxuriöse Leben einiger weniger im Land und die Situation der Mehrheit, die unter der Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag leben.

Hat sie ein Programm? „Nein“, sagt sie, dafür brauchte man genaue Zahlen, und die habe ja noch nicht einmal der Premierminister. Aber auch so ist sie ihres Urteils sicher: „Wenn die Alternative für junge Menschen nur heißt, auf der Flucht im Mittelmeer zu ertrinken oder in Attentaten zu sterben, dann soll man sich nicht wundern, wohin das Land treibt.”

Ein anderer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Familienpolitik. Zwei Drittel der marokkanischen Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt, schon darum ist dies Thema in Marokko wichtig. Doch so nahe Yassine, aus einer westlichen Perspektive betrachtet, in Verteilungsfragen den Linken zu stehen scheint, so konservativ ist sie in Fragen der Familie. Die königliche Reform des Familiengesetzes im Jahr 2001, die es Frauen unter anderem erlaubte, ohne Zustimmung des Ehemannes zu arbeiten, lehnt sie heftig ab.

Yassine wurde wegen ihres Protests der Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation angeklagt und zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Auch wenn die gemäßigten Islamisten der PJD die jüngsten, sehr fortschrittlichen Entwürfe zur Familienreform vom Oktober dieses Jahres (ZEIT Nr. 43/03) ausdrücklich begrüßen: Für die säkulare Frauenbewegung Marokkos verkörpert Nadia Yassine Rückwärtsgewandtheit. An einer Konferenz über Frauenrechte in der arabischen Welt würden linke Feministinnen gar nicht teilnehmen, wenn Yassine mit ihnen auf dem Podium säße.

Dabei betreibt ihre Bewegung auf eigene Weise durchaus eine aktive Frauenförderungspolitik. Ganz ohne Quote sitzen in ihren Führungsgremien 20 Prozent Frauen. Widersprüchlich ist die Partei und die Person: Auf der einen Seite ist Nadia Yassine eine der politisch aktivsten Frauen im Land; auf der anderen Seite protestiert sie dagegen, dass Frauen nach der Scheidung die Hälfte des Besitzes bekommen und bei Wiederheirat das Sorgerecht für ihre Kinder behalten.

Warum tut sie das? Eigenständigkeit und kulturelle Identität sind die Zauberworte, um derlei Ansichten in der arabischen Welt zu verstehen. Man will modernisieren, man will demokratisieren, aber man will – trotz aller „Kontakte” mit dem Westen – diesen auf gar keinem Fall imitieren oder von ihm gegängelt werden. Nadia Yassine hat einen Teil ihrer Ausbildung an der Mission Française erhalten und profitiert davon. Trotzdem hat sie sich zum antiwestlichen Lager geschlagen. Die ihr nahe stehende PJD wollte Abgängern der Mission vor kurzem sogar die marokkanische Staatsbürgerschaft absprechen. Das sind Auswüchse der leidenschaftlichen Identitätsdebatte vieler Muslime, die sich um alles in der Welt selbst bestimmen wollen.

Nadia Yassine hat sich damit ausführlich beschäftigt. In ihrem ersten Buch (Alle Segel hoch – der Titel lässt sich im französischen Original auch als Alle Schleier hoch lesen – erschien 2003 ausgerechnet im feministischen Verlag Le Fennec) sucht sie nach den Ursachen für das ewige Unverständnis zwischen Christen und Muslimen. Amerika steht dabei natürlich im Zentrum. Nadia Yassine vertritt die moderate Mehrheitsmeinung der arabischen Welt. „Ich bin weder für die USA noch gegen sie“, sagt sie. „Ich bin für die Vernunft und die Abgewogenheit, und ich glaube nicht, dass die USA ihre Politik auf diesen beiden Konzepten aufbauen. Selbst mit dem nötigen Grad an Zynismus und Realpolitik, den man wohl jeder Politik zusprechen muss, überschreiten sie jede Norm bei weitem.“

Mit durchaus politischer Absicht hat sie diese Analyse – und nicht ihren ebenfalls abgeschlossenen Science-Fiction-Roman – in diesem Jahr als Erstwerk veröffentlicht. Ihr Vater hatte ihr dringend dazu geraten, damit sie nicht auf die Rolle der unpolitischen Schriftstellerin festgelegt werde.

Wer also folgt dem 74-jährigen Scheich an der Spitze seiner Organisation nach? Zwar sind auch Nadia Yassines Bruder und Ehemann in der Bewegung aktiv, aber im Zentrum der Spekulationen steht sie selbst. Wird Marokko das erste arabische Land, das eine Frau an der Spitze einer islamistischen Organisation sieht? Das wäre eine Kulturrevolution.

Gut möglich, dass es dazu kommt, denn für die Frau spricht mehr als für die Männer: Nadia Yassines Charisma, die Professionalität ihrer Öffentlichkeitsarbeit für ihre Bewegung, ihr starker Wille und nicht zuletzt – ihr Machtinstinkt.


(c) DIE ZEIT 06.11.2003 Nr.46
http://www.zeit.de/2003/46/N__Yassine

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