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Blümchen Offline



Beiträge: 26

04.06.2004 15:49
Die arabische Welt hat eigene Vorbilder Antworten


Die arabische Welt hat eigene Vorbilder

Kann Marokko dem Irak bei der Aufarbeitung der Geschichte als Vorbild dienen? Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient in Berlin plädiert zumindest für einen Erfahrungsaustausch.

Bei den niederschmetternden Nachrichten aus der arabischen Welt fragt sich der Betrachter, wie diese tief traumatisierten Gesellschaften mit der Verarbeitung innergesellschaftlicher Gewalt umgehen? Dabei gibt es noch immer eine gewisse Scheu, psychologische Ansätze zur Erklärung von Handeln für die arabische Welt anzuwenden. Eine solche Herangehensweise scheint in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften noch immer für die Introspektion reserviert zu sein. Gibt es keine Formen kollektiver Erinnerungsarbeit in der arabischen Welt?

In einer Reihe von beispielhaften Initiativen von Marokko bis Libanon versuchen Bürger sehr wohl ihre tief gespaltenen Gesellschaften zu einen und den Opfern ein Zusammenleben mit den Tätern zu ermöglichen. Insbesondere Marokko ist Vorreiter. Seit zwei Jahren boomt hier die Literatur ehemaliger politischer Häftlinge: In Autobiographien, Comics, Gedichten, Romanen und Filmen legen sie Zeugnis ihrer Gefangenschaft ab. Zu den bekanntesten Autoren zählen Abraham Serfaty (Haft von 1974-1991) oder Fatna el-Bouih (Haft von 1977-1982). Ihre Zeugnisse sind ein wichtiger Teil der marokkanischen Erinnerungsarbeit. Der Machtwechsel von Hassan II. zu Mohammed VI. eröffnete zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Möglichkeit, staatliche Gewalt systematisch aufzuarbeiten und einen Versöhnungsprozess anzustoßen. Fatna el-Bouih sieht den Machtwechsel von 1999 positiv. In einem Interview mit Susan Slyomovics (MERIP 218, Frühjahr 2001) sagt sie:

„Als ehemaliger politischer Häftling fühle ich eine enorme psychische Erleichterung und Entlastung seit dem Tod Hassan II., und mir fallen Veränderungen in mir selbst und in Marokko auf. Nur in dieser neuen Ära bin ich wieder wirklich politisch aktiv geworden. Davor habe ich nur geschrieben, jetzt fühle ich mich nützlich. Zum Beispiel sind mein Mann und ich Gründungsmitglieder des marokkanischen "Observatorium der Gefängnisse", ein Verein, der im November 1999 offiziell anerkannt wurde. Ich habe das Gefängnis erlebt und heute möchte ich anderen Häftlingen helfen. Der Verein ist ein Weg für mich, dies zu tun. Wir schreiben Berichte, besuchen Gefängnisse und im letzten Ramadan haben wir Veranstaltungen im Frauen- und Männertrakt der Oukacha-Strafanstalt organisiert. Wir arbeiten an Programmen, die Häftlingen helfen sollen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, und wir machen Druck, um die Gesetze zu verändern. Die Gefängnisleitungen waren da sehr empfänglich.“

Erste Wahrheitskommission in arabischem Land

Marokko ist das erste und bisher einzige arabische Land, in dem eine unabhängige Wahrheitskommission zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen gegründet wurde. Opfer gewaltsamer Willkürherrschaft und ehemalige politische Häftlinge organisieren sich in der Wahrheitskommission Forum Verité et Justice. Sie veranstalten sit-ins, Pressekonferenzen, Anhörungen oder Pilgerfahrten zu den ehemaligen Folterzentren. Der Staat reagierte auch: eine königliche Wiedergutmachungskommission wurde eingesetzt. Und obwohl es keinen Regimewechsel in Marokko gegeben hat, sondern nur eine Machtübergabe, leistet Mohammed VI. einen Beitrag dazu, dass Menschenrechtsverletzungen aus der Regierungszeit seines Vaters Hassan II. zugegeben werden. Das ist nicht nur in den Staaten des Nahen Ostens ein schwieriger Schritt für einen Sohn. Nur eine Woche nach dem Tod seines Vaters, also noch innerhalb der 40-tägigen Trauerzeit, verkündete Mohammed VI. einen Gnadenerlass mit verkürzten Haftzeiten für 46.000 Häftlinge und entließ 8.000 Gefangene aus der Haft. Sicherlich gibt es auch viele enttäuschte Hoffnungen seit seinem Machtantritt, aber die bleierne Zeit ist vorbei. So ist es kein Zufall, dass derzeit eine Reihe von politischen Morden aus den sechziger und frühen siebziger Jahren (Mehdi Ben Barka, Omar Benjelloun, Mohammed Oufkir) wieder aufgerollt werden. Neue Zeugen fühlen sich jetzt sicher genug, mit ihrer Version der Geschehnisse an die Öffentlichkeit zu treten. Heute erhalten die Opfer und ihre Familien zum Teil sogar finanzielle Entschädigungen. Einige der politischen Häftlinge aus dem berüchtigten Folterzentrum Tazmamart bekommen eine monatliche Rente von umgerechnet etwa 500 €.

Vorbild für Irak?

Die staatliche und zivilgesellschaftliche Erinnerungsarbeit könnte Vorbild für ein Land wie Irak sein. Denn das Regime Saddam Husseins ist viel eher vergleichbar mit dem Hassan II. als mit dem Hitlers. Die in arabischer Sprache erschienenen Selbstzeugnisse geben sicherlich eine für viele Iraker entsprechende Situation wieder. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Opfer im Irak auf bis zu eine Million.

Es gibt drei Positionen, wie mit den Tätern umgegangen werden soll: Menschenrechtler fordern, dass sie vor ein internationales Strafgericht kommen und Straftaten dort juristisch geahndet werden. Irakische Oppositionelle haben dagegen die Errichtung einer Wahrheitskommission empfohlen, bei der die juristische Strafverfolgung weniger im Mittelpunkt steht, als der gesellschaftliche Versöhnungsprozess. Die irakische Interimsregierung hat am 15. Juli als eine seiner ersten Amtshandlungen die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals beschlossen. Da weder der Irak noch die USA den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anerkannt haben, werden dort keine Verbrechen verhandelt werden können. Ein mutiger Schritt des neuen Regierungsrates wäre es, den Internationalen Strafgerichtshof jetzt anzuerkennen – so würden die Doppelstandards der USA noch deutlicher. Ein internationales Ad-hoc-Tribunal, wie im Fall von Jugoslawien oder Ruanda, wird von irakischen Exilgruppen zurückgewiesen, so etwa von der in London ansässigen irakischen Juristenvereinigung. Salem Dschalabi, Berater der amerikanischen Zivilverwaltung, verweist explizit auf die Entnazifizierung in Nachkriegsdeutschland sowie auf die Arbeit der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission als Vorbild.

Andere Formen der Aufarbeitung

Weltweit gibt es bislang über 30 Präzedenzfälle für Wahrheitskommissionen. Darüber hinaus gibt es weniger offizielle und institutionalisierte Formen, wie z.B. in Äthiopien oder in Nordirland. Diskussionen über die Einrichtung von Wahrheitskommissionen oder ähnlicher semi-offizieller Auseinandersetzungsformen mit innergesellschaftlicher Gewalt gibt es auch in anderen arabischen Ländern. Im Libanon und in Algerien geht es allerdings im Gegensatz zu Marokko oder dem Irak um die Bewältigung eines Bürgerkrieges bzw. bürgerkriegsähnlicher Zustände. Insbesondere im Libanon ist die psychologische Aufarbeitung des blutigen Brudermords zwischen Christen und Muslimen von 1975 bis 1989 weit vorangeschritten. In Algerien ist ein Ende der tagtäglichen Gewalt noch immer nicht abzusehen. Trotzdem gibt es einzelne Nicht-Regierungsorganisationen, die sich um traumatisierte Kinder kümmern oder psychologische Betreuung für Opfer anbieten. 1998 riefen führende Politiker zu einem Kongress der nationalen Versöhnung auf. Zu den Unterzeichnern gehörten algerische Leitfiguren wie der ehemalige Präsident Ahmed Ben Bella, Abdelhamid Mehri von der ehemaligen sozialistischen Einheitspartei FLN und Abdelkader Hachani von der FIS. Mit Hachani rief zum ersten Mal ein in Algerien lebender FIS-Führer zur nationalen Versöhnung auf.

Im Israel-Palästina-Konflikt versuchen Psychologen Ergebnisse aus der Holocaustforschung für einen Versöhnungsprozess fruchtbar zu machen. Jüngst veröffentlichte die Economic Cooperation Foundation unter Leitung von Yair Hirschfeld lessons learned für die Konfliktbewältigung in Israel-Palästina aus Südafrika. Trotzdem ist diese Art von Erinnerungsarbeit immer auch ein Import aus einer anderen Zeit in einen anderen Zusammenhang. Ein marokkanisch-irakischer Austausch über die jeweiligen Erfahrungen wäre sicherlich wesentlich effektiver als der ewige Fingerzeig gen Westen oder der beliebte Vergleich mit Nachkriegsdeutschland. Kürzlich kamen in Ägypten eine Reihe von arabischen Psychologen zusammen, um die Folgen im Irak zu diskutieren. Selbst wenn es im Irak zukünftig nicht zur Gründung einer Wahrheitskommission im südafrikanischen Sinne kommt, wird es dennoch weniger institutionalisierte Formen von Erinnerungsarbeit geben, um die traumatisierte Gesellschaft aufzufangen. Dabei können alle Parteien sehr wohl von den Erfahrungen ihrer arabischen Nachbarländer lernen.

Sonja Hegasy

© Sonja Hegasy 2003

Dr. Sonja Hegasy ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient, Berlin

Quelle:
http://www.qantara.de/webcom/show_articl...r-9/_p-1/i.html
http://www.qantara.de/webcom/show_articl...r-9/_p-2/i.html

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